SÜDAFRIKA: VON FELSEN, (WARTE)SCHLANGEN UND VERBORGENEN WELTEN
Wieder in Bamberg ist der Himmel weißgrau und wetterlos – kein Regen, keine Sonne, kein Schnee, keine Bamberger Schäfchenwolken. Nur ein weißes, stilles Nichts, eigentlich perfekt zum Ankommen und Verarbeiten der Reiseeindrücke.
Zum ersten Mal waren Alvaro und ich also gemeinsam in meinem Heimatland Südafrika, und so sehe ich viele Eindrücke wie mit einer Doppelbrille gleichzeitig ganz neu zum ersten Mal, aber auch als Normalität, als eine Erinnerung an mein früheres Leben dort. Südafrika ist ein Land von beeindruckenden Kontrasten, ein Land der unterschiedlichsten Wirklichkeiten. Unzählige gelebte Schicksale verweben sich zu einem dicken Zopf aus Weltgeschehen, dessen unterschiedliche Stränge doch eigenen Gesetzen und widersprüchlichen Logiken folgen, und dazu so unterschiedliche Selbstverständnisse in sich tragen.
Ein Teil meiner Familiengeschichte flicht sich hier im 19. Jahrhundert ins Geschehen, als ein Schwede nach Südafrika auswandert und dort eine Familie gründet. Wir besuchen meine Großeltern auf ihrem kleinen Weingut, das in den Hügeln um Stellenbosch liegt, zwischen der letzten Düne des Meeres und den ersten Granitbrocken der nahen Berge. Wir besuchen meine Mutter, die Haus und Garten in ein schattiges Refugium verwandelt hat. Wir besteigen den Tafelberg, wandern, fahren ans Meer, besuchen Freunde, streifen durch die Landschaft, sammeln bruchstückhafte Eindrücke. Davon teile ich einige Fragmente.
Auf dem Tafelberg sind ganze Welten in Felsschluchten und Hochplateaus verborgen. An einem sonnigen aber zum Glück etwas windigen Tag führt mein Bruder uns einen Lieblingsweg hinauf. Wir klettern durch die felsige und dicht bewaldete Skeleton Gorge immer höher, und unter uns breitet sich die Millionenstadt endlos und glitzernd aus. Noch höher, und wir sehen das Meer, den großen Bogen der False Bay und die violetten Bergketten dahinter, die das Kap vom Landesinneren trennen. Oben auf der zerklüfteten Ebene des Tafelbergs gibt es zahlreiche Wege, die sich durch die atemberaubende Fynbos-Welt schlängeln. Fynbos gibt es nur hier im Westkap: eine heimische Mischung aus Proteengewächsen, Gräsern, zarten Kräutern und Blumengewächsen, die teilweise so speziell an ihren Lebensraum angepasst sind, dass sie nur in einem winzigen Gebiet überhaupt vorkommen. Wie etwa der Silberbaum Leucadendron argenteum, ein Proteengewächs mit mysteriös schimmernden Samtblättern, das allein an den schattigen Hängen des Tafelbergs wächst, nirgends sonst.
Wir picknicken in einer schmalen Schlucht, mitten in einem Flüsschen, eingebettet in Farne und von knorrige Stämmen beschattet, deren Wurzeln sich auf unverständliche Art und Weise im Gestein verkeilt haben. Das Wasser ist kühl und rein, aber bräunlich wie Tee, und ich schöpfe gierig davon mit hohlen Händen.
Jede Windung im Weg zeigt eine ganz neue Welt, ein neues Mikroklima, eine eigene Mischung aus Sonne, Wind, und Wasser, die jedem Berghang und jeder Schlucht ein individuelles Kleid schneidert. Als Wanderin fühle ich mich klein und unwissend neben den Felsgiganten; was verstehe ich schon von den geheimen Zusammenhängen dieser uralten Welt? Wie wenig durchblickt man beim Durchstreifen dieser Landschaft, man sieht doch bloß das Alleroberflächigste.
Im starken Kontrast dazu steht der Besuch bei Home Affairs, dem Bürgeramt. Denn mein Pass muss erneuert werden. Bereits in Deutschland war ich wiederholt in München beim Südafrikanischen Generalkonsulat zur Verlängerung meines Reisepasses. Das Vorhaben scheiterte an meinen durch die Goldschmiedearbeit abgeschliffenen Fingerkuppen der linken Hand, die im altmodischen Stempelkissen nur mangelhafte Fingerabdrücke hergaben. Bürokratie ist leider in allen Ländern unumgänglich, und so stelle ich mich bei Home Affairs in die Warteschlange, Termine werden nämlich keine vergeben. Stattdessen wartet man in langen Schlangen in der gnadenlosen Sonne; erfahrene Bürokratiegänger kommen mit Campingstuhl, Kreuzworträtsel und Schirm, und einer Tüte voller Geduld. Es gibt sogar professionelle Warter, die sich frühmorgens in die Schlange stellen und später ihren Platz gegen einen Geldschein wechseln, meist zu aufgebrachten Protestklängen der hinter ihnen Stehenden. Jedenfalls fand mein stilles Drama nach vier Gängen zum Amt ein Ende, als ich endlich, nach fast acht Monaten vergeblicher Versuche, mein kostbares Reisedokument in Händen hielt und damit wieder heim nach Bamberg durfte.
Auf einem Flohmarktbesuch gehen uns die Augen über: So unendlich viele gelebte Leben, deren Überbleibsel hier auf geblichenen Plastikplanen ausgebreitet angeboten werden, so viele Geschichten, zu viele, sie überhaupt alle wahrzunehmen, geschweige denn einzufangen.
Am Meer in der Nähe von Hermanus verliere ich mich in den kleinen Tümpeln, die nur bei Ebbe zwischen den zerklüfteten Felsen zu erreichen sind, nur nach mühsamen Kletterpartien auf den scharfkantigen Steinformation. Die kleinen Mikrokosmen der Gezeiten sind wie umfriedete Paradiese.
Ich finde Kompositionen aus moosigem Grün und zartem violett, hell-orangene Flecken, kostbare Stückchen Welt die ein Gewimmel von Leben beherbergen. Ich kann sie weder besitzen noch einfangen, denn die Wasseroberfläche schäumt und spiegelt und meine Kamera versagt kläglich. Vielleicht mit Aquarell und Papier, denke ich, auf dem spitzen Fels balanciert, aber vielleicht auch einfach nicht; vielleicht muss man dieses schimmernde Bild allein in der Erinnerung aufbewahren. Manche Tümpel sind dicht mit Seeanemonen besiedelt, in anderen gibt es wieder keine einzige Anemone und dafür eine Menge farbenfroher Seeigel. Und Seesterne, Muscheln, Flechten und Seetang, kleine Krabben, leere und teilweise wieder neu bewohnte Schalen, Totes und Lebendiges durcheinander. Die Grenze zwischen Tier und Pflanze, Alge und Pilz scheint verwischt, der ganze Tümpel atmet im Rhythmus der Gezeiten und wird zur zusammenhängenden Kreatur.
Die Reise ist zu kurz, all das Gesehene zu begreifen und zu artikulieren, aber es bleibt ein Bodensatz an Eindrücken an der Seele haften. Und die kostbare Erfahrung bleibt, dass jeder seine eigene Geschichte mit sich trägt und seine eigene Wirklichkeit lebt. Wenn ich heute auf meinem Sonntagnachmittagsspaziergang die Bamberger in ihre Wintermäntel gehüllt sehe, freue ich mich auf alle anstehenden Begegnungen im Atelier, auf alle die Schicksalswendungen, die mir im Laufe des Jahres zugetragen und erzählt werden, und die ich dann anschließend als kostbare Erinnerung in Schmuckstücke konservieren kann. Denn das ist mein Leben so wie ich es mir erträumt habe - im Fertigen der Schmuckstücke tragbare Geschichten erzählen.